Zeit zu helfen
Fotos: Wohltätigkeits-Jahrmarkt in München, 6.12.2015
Weihnachten und Wohltätigkeit. Weihnachten und ein gütiges, offenes Herz. Diese Worte sind schon seit langem zu Synonymen geworden. Haben Sie sich je gefragt, warum das so ist? Warum hat sich Dickens´ Bild von einem habgierigen Alten, der nicht einmal an Heiligabend bereit ist zu teilen, als so stark erwiesen, dass der Name dieser Figur sich von ihr gelöst hat und als eigenständiges Wort in die englische Sprache eingegangen ist (scrooge – Geizhals)?
Auf den ersten Blick mag die Frage danach, warum das Verlangen nach guten Taten ausgerechnet in der Vorweihnachtszeit so ausgeprägt ist, als recht banal erscheinen. Klar doch! Die Heiligen Drei Könige sind zur Verehrung des neugeborenen Jesus ja auch mit Gaben gekommen. Deshalb muss jedes Kind zu diesem Festtag beschenkt werden. Und wenn Kinder Geschenke bekommen, warum nicht auch die Alten? Und wenn auch die Alten etwas kriegen, warum nicht gleich alle? Gerechtigkeit muss es ja schließlich geben!
Doch was ist dann mit denen, die die biblischen Geschichten nicht kennen? Sie glauben, solche gibt es in unseren Breitengraden nicht? Da denken Sie falsch.
Vor einigen Jahren hat eine Fernsehgruppe zufällige Besucher des Münchner Weihnachtsmarkts gefragt, was denn bei diesem Fest überhaupt gefeiert wird. Wie erwartet fanden sich so einige Menschen – weit entfernt vom Kindesalter -, die keinerlei Ahnung hatten. Die Episode sollte wahrscheinlich lustig sein, brachte aber eine ziemlich krankhafte Seite unserer Gesellschaft an den Tag: die komplette Loslösung von ihren Wurzeln.
Es wäre interessant zu erfahren, ob diese naiven Unwissenden in der Weihnachtszeit auch mehr (oder überhaupt) spenden. Verspüren sie ebenfalls den Drang, anderen zu helfen? Und wenn ja, warum? Vielleicht weil die Kälte und die Not im Winter tatsächlich spürbar sind, was uns daran erinnert, dass bei weitem nicht alle eine warme Mütze auf dem Kopf und einen Truthahn im Ofen haben? Wieder die Gerechtigkeit. Die nun gar nichts mehr mit den sogenannten „Traditionen“ zu tun hat.
Und das bringt uns – wie ich glaube – zum Schlüsselbegriff des Problems. Heute gehört es zum guten Geschmack, alles, was mit Religion verbunden ist, als „Tradition“ zu bezeichnen. Auf diese Weise stellt sich der Mensch als einen fortschrittlichen Intellektuellen dar, der gleichzeitig die unterbehelligte Vergangenheit mit all ihren Überbleibseln respektiert.
Beten vor dem Essen? Natürlich! Eine sehr nette „Tradition“! Kirchgang zu Weihnachten oder Ostern? Eine ausgezeichnete „Tradition“, die die Familie vereint! Wohltätigkeitsjahrmärkte? Eine außerordentlich nützliche „Tradition“! Spüren sie den bitteren Nachgeschmack? Woher kommt er? Ich glaube hiervon: Worte haben einen enormen Einfluss auf unsere Denkweise. Wir brauchen nur oft genug „Traditionen“ und „Legenden“ zu sagen und schon verlieren die so bezeichneten Ereignisse an Leben und an Realität. Sie werden zu leeren Märchen, die nicht auf unsere Seele einwirken können. Vielleicht nur belehrend, doch was ist das schon im Vergleich zur lebendigen Kraft, die die Beschaffenheit des Herzens verändern kann?
Viele Orthodoxe mögen das Wort „Zauber“ nicht. Ich aber schon. Und hier passt es sehr gut. Ich glaube, dass in der Zeit vor diesem überaus wichtigen Fest auf unserer armseligen Erde etwas Zauberhaftes geschieht. Ein Stern fliegt vorbei und erhellt die Gesichter zufälliger Passanten. Und die Menschen blicken um sich und stellen verwundert fest: Wir sind eins! Das bin ich. Und das da bin auch ich. Und der einbeinige Obdachlose dort – auch das bin ich! Und bald passiert etwas Großes! Etwas GROßES! Ich muss mich beeilen! Doch beeilen, was zu tun? Ich weiß es! Ich gebe einen Teil von mir und werde so ganzer! Denn ich gebe ihn ja mir selbst!
Keine Traditionen, keine Gerechtigkeit, bloßer Zauber.
Margarita Ostapchuk